Das Phänomen Angst ist v.a. im Zusammenhang mit der Körperlichkeit und damit mit dem Überlebenswillen zu sehen. Das Ziel, körperlich unversehrt zu bleiben, ist hochprioritär und bildet somit einen so wesentlichen Aspekt des Daseins, so dass die materielle Angst eines Menschen eng damit verschränkt ist.
Im Wesentlichen hält Angst das Leben in modernen Gesellschaften zusammen – Ängste werden belebt, aufgeladen und geschürt – im Großen, wie im Kleinen. Und dennoch oder vielleicht aus diesem lebensbestimmenden Gründen vermeidet es Mensch möglichst, sich seinen eigenen Ängsten zuzuwenden.
Ja, für die meisten Menschen bedeutet es mutig zu sein, um Angst bewusst wahrzunehmen und einen konstruktiven Umgang mit diesem unangenehmen Gefühl zu finden.
Mithilfe passender Werkzeuge kann eine solche Wahrnehmung erleichtert und sogar systematisiert werden. Die emotionale Entlastung wird spätestens dann deutlich spürbar, sofern die eigenen Ängste weniger diffus und damit leichter durchschaubar sind. Auf diese Weise kann eine wohltuende innere Distanz zur Angst bewirkt werden, so dass unmittelbar ein höherer Grad an Entscheidungsfreiheit entsteht.
Wir leben in der Polarität, in einer Welt der Gegensätze. Die Natur, das Leben überhaupt, pulsiert zwischen diesen Gegensätzen – auf diese Weise machen wir Erfahrungen, lernen wir. Angst und Liebe bilden zwei Pole, zwischen denen sich unser Denkfühlen ständig bewegt. Die Sehnsucht nach Liebe entsteht aus der Angst. Die angstbedingten Erfahrungsbausteine treiben den Menschen in seine individuellen Lernprozesse, die einen jeweiligen Entwicklungsweg zeichnen. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann davon ausgegangen werden, dass es vor allem darum geht, auf dem menschlichen Erfahrungsweg die eigene Liebesfähigkeit zu entfalten und Erkenntnisse zu gewinnen.
Angst ist offenbar so alt wie die Menschheit selbst und daher erscheint es sinnvoll, von Urängsten zu sprechen, die auch noch heute, Archetypen gleich, im menschlichen Dasein ihre Wirkungen entfalten.
Dem hier ausgeführten Blick auf die menschlichen Urängste liegt folgendes Denkgerüst zugrunde: Von insgesamt sieben Urängsten ist bei jedem Menschen eine Kombination aus zwei von diesen vorzufinden, woraus sich individuell die lebensbestimmende Grundangst zusammensetzt. Weiterhin besteht die Hypothese, dass diese jeweiligen beiden Ängste bestimmte Verhaltensmerkmale erzeugen, die beobachtbar und erkennbar sind. Zur besseren Unterscheidung gliedern sich diese Verhaltensmerkmale auf in Primärindikator und Sekundärindikator der Angst. Der Begriff Indikator bietet hier den Hinweis auf das Sichtbare, d.h. die eigentliche spezifische Angst verbirgt sich hinter den Indikatoren. Oder anders gewendet, bestimmte Primär- und Sekundärindikatoren weisen auf ganz spezifische Urängste hin. Beispielsweise weist der Primärindikator Hochmut, der sich meistens durch eine arrogante Haltung und Verhaltensweise zeigt, auf die Urangst vor dem Verletztwerden hin. Die Angst vor Verletzung ist für die betroffene Person also lebensbestimmend und wirkt sich auch maßgeblich auf den Lernweg, auf die Erfahrungen und die zu gewinnenden Erkenntnisse im Laufe dieses Lebens aus.
Hasselmann und Schmolke (2009) ziehen zur Veranschaulichung der menschlichen Angststruktur die Analogie zu einem Baum: „Die Grundangst – die für jeden Menschen gültige Kombination zweier archetypischer Urängste – ist die Wurzel. Wurzel bedeutet zweierlei: Zum ersten ist sie an der Oberfläche nicht sichtbar. Den meisten Menschen ist ihre Grundangst dementsprechend nicht bewusst. […] Zum Zweiten nährt die Wurzel den ganzen Baum. Das heißt, dass es viele kleinere und größere Angstzweige dieses Baumes gibt, mit denen der Mensch mehr oder weniger gut umgehen kann, die ihn aber nicht zentral bestimmen.“
Dieser Baumanalogie folgend, bilden zwei Urängste die Grundangst und diese durchflutet den ganzen Baum, bis in die kleinsten Zweige der Angst hinein. Die Grundangst bildet u.a. maßgeblich die Seelenstruktur eines menschlichen Individuums. Die Fixierung der Grundangst ereignet sich bereits im Säuglingsalter und fortan wirkt sie sich auf den Weg der Erfahrungen sowie auf die Entwicklung des Charakters aus.
Die sieben archetypischen Urängste schlüsseln sich weiter auf in Unterkategorien. Jene drei häufigsten Unterkategorien einer jeweiligen Urangst finden Berücksichtigung in dieser systematisierten Darstellung der menschlichen Angststruktur. Hasselmann und Schmolke folgend, finden die von ihnen verwendeten charakteristischen Bezeichnungen für diese Unterkategorien auch hier Anwendung.
„Lernen am Schmerz“ ist offenkundig der bevorzugte menschliche Lernweg hinsichtlich der eigenen Persönlichkeitsentfaltung im Laufe eines Lebens. Der existenzielle Lernprozess eines Menschen weist eine Angstdynamik auf, indem sich zwei Urängste zu einer Grundangst verbinden, die einen Primär- und einen Sekundärinkator aufweist.
Sieben Urängste mit jeweils drei Unterkategorien ergeben 42 Ausprägungsmöglichkeiten der Grundangst. – Sofern der Primärindikator identifziert ist, kann mithilfe dieser Ausprägungen geprüft werden, welcher Sekundärindikator sehr wahrscheinlich gegeben ist.
„Um die Dynamik der aus zwei Urängsten bestehenden Grundangst zu verstehen, muss zwischen einem notwendigen und einem überflüssigen Aspekt unterschieden werden. Notwendig ist die Angst an sich, und zwar als Motor der menschlichen Entwicklung. Überflüssig sind hingegen viele ihrer oberflächlichen Erscheinungsformen, der Schematismus ihrer Reaktionen, das allzu Leidvolle, das Trennende, das Übertriebene. Alles Notwendige bleibt bestehen, das Überflüssige aber kann abgebaut, positiv verändert oder therapiert werden.“ (Hasselmann, Schmolke 2009, S. 12) Angst gehört also zum Leben dazu, die eigene Grundangst selbst bleibt unveränderbar – sie ist fester Teil des individuellen Soseins. Der Umgang mit der eigenen Grundangst ist allerdings sehr wohl konstruktiv veränderbar! Persönlichkeitsentwickung ist das Motto. Hierzu zählt u.a. das Begreifen innerer Wechselwirkungen und Zusammenhänge genauso wie eine zunehmend empfundene Verhaltensflexibilität in der Lebenspraxis. Die eigene Verhaltensweise wohlwollend zu durchschauen, Angst als solche erkennen und sie damit von der Wirklichkeit unterscheiden zu können, bilden eine wesentliche Voraussetzung für mehr Entscheidungsfreiheit und damit eine größere Verhaltensflexibilität. Oder anders gewendet: „Der Angstbaum wird zurechtgeschitten, aber Wurzel und Stamm bleiben erhalten.“ (Hasselmann, Schmolke 2009, S. 13)
Eigenverantwortung gepaart mit Selbsterkenntnis nehmen der Angst ihre diffuse Bedrohlichkeit. Denn mehr Selbstbewusstsein, d.h. sich seiner selbst mehr bewusst zu sein, resultiert aus der Fähigkeit, sich selbst wertfrei beobachten zu können und auf dieser Basis mehr Denk- und Handlungsfreiheit zu gewinnen. Auf diese Weise ist sehr viel leichter, die für die eigenen Lernprozesse überflüssige Angst (s.o.) aufzulösen.
Um die Grundängste zu wissen, erleichtert auch den wertschätzenden Umgang mit den Mitmenschen. Es ist daher gut zu wissen, dass Angst viele Masken trägt und einige dieser Masken zeigen sich schmeichelhaft, nämlich als vermeintliche Tugenden.
„Die weit verzweigten, leidvollen und nicht für das innere Wachstum notwendigen Erscheinungsformen der Grundangst“ (Hasselmann, Schmolke 2009, S. 14) mit einem gewissen Forschergeist in den Blick zu nehmen und sie als innere Widerstände zu identifizieren. Jene „Selbstverhinderer“, die der eigenen Lebensfreude abträglich sind, gilt es nach und nach zu entmachten und von ihrer bisherigen Bedeutungszuschreibung zu befreien. Inwieweit dies gelingt, ist unmittelbar an der Erleichterung festzustellen, die sich unmittelbar mit dem Loslassen eines Widerstands Raum nimmt.
©Felicitas Waltemath 2016; überarb. 2017 | intrapersonale