Nahe des Gipfels eines hohen mächtigen Berges entsprang Vivo fröhlich sprudelnd aus seiner Quelle. Er war noch sehr jung, als er singend und tanzend durch Wälder und Wiesen seinen Weg erkundete. So wuchs er heran zu einem tosenden Bach. Angekommen im flacheren Land, wurde sein Tempo ruhiger und ihm kam die Idee zum Ozean zur reisen.
Der Fluss wurde größer, verstand sich mehr und mehr darauf schön zu sein und sich anmutig durch viel besuchte Landschaften zu winden, mit ihren Hügeln und Tälern, durch kleine und große Städte. Dabei entdeckte er die Wolken. – Wolken in unzähligen Formen und bunt leuchtenden Farben. Er wollte sie unbedingt haben, für sich. Und so begann die Zeit, in der die Jagd nach den Wolken sein Leben bedeutete.
Oft standen die Wolken scheinbar am Himmel, doch bei genauerem Hinsehen bewegten und veränderten sie ständig ihre Form. Manchmal sehen sie aus wie Haus, ein anderes Mal wie Schloss und dann wieder wie ein Zelt, oder ein Wagen, ein Tier oder ein Gesicht. – Das betrübte den Fluss, denn das Wesen der Wolken zeigte ihm das Vergängliche in seinem Lauf besonders deutlich. Jagte er den Wolken nach – wie getrieben, ohne Unterlass, war er vergnügt und gutgelaunt. Doch je mehr er die Wolken zu seinem Wichtigsten werden ließ, desto häufiger überwältigten ihn Gefühle des Zweifelns, der Angst, der Wut und zuweilen auch tiefe Traurigkeit.
Vivo suchte seinen langen Weg durch die immer wiederkehrenden Jahreszeiten und vielfältigen Landschaften.
Eines Tages zogen starke Winden auf und bliesen sämtliche Wolken hinfort, bis keine einzige mehr zu sehen war. Der Himmel war wolkenlos und klar. Doch Vivo ward von tiefer Verzweiflung ergriffen und er fragte sich wozu es sich noch zu leben lohnte, so ganz ohne Wolken? Er wurde sehr trüb und wäre am liebsten gestorben.
Kann sich ein Fluss selbst vom Leben abschneiden?
Es wurde Nacht, tiefdunkel und still. In dieser Nacht geschah es, dass sich der Fluss zum ersten Mal sich selbst zuwandte. Er war solange Etwas nachgelaufen, das sich außerhalb von ihm befand, dass er sich selbst nie gesehen hatte.
Im Nachtdunkel hörte er erstmals das leise Gurgeln seiner inneren Strömungen, das sanfte Platschen beim Berühren der Ufer. Es war sein eigenes Rufen. Vivo hörte sich selbst und erkannte Bedeutungsvolles: Das Glückverheißende, nach dem er sich so sehr sehnt und was er in den Wolken zu finden glaubte, war schon seit Anbeginn in ihm selbst.
Ihm wurde bewusst, dass Wolken aus Wasser bestehen, denn sie werden aus Wasser geboren, um sich auf ihre Reise zum Wasser zurück zu begeben. Und so wurde sich Vivo gewahr, dass auch er Wasser ist.
Als am nächsten Tag die Sonne hoch am Himmel stand, nahm er zum ersten Mal den blauen Himmel wahr, endlos, schön und friedlich. Nie zuvor war er sich des Himmels bewusst, denn seine Aufmerksamkeit galt stets den Wolken. Der Himmel – die Wohnstatt aller Wolken – war bislang kein Teil seiner Welt.
Vivo erkannte, dass der weite grenzenlose Himmel schon seit Anbeginn ist. Wolken, Erscheinungen in der Zeit, sind Formen des Wassers. Und die Beständigkeit des Himmels ist die Substanz, die von den Formen ungerührt bleibt.
Diese tiefe Einsicht erfüllte ihn mit Frieden und Freude. Der Fluss nahm den endlosen Himmel wahr und spürte die Gewissheit, dass ihm seine Beständigkeit ewig bleibt.
Nachmittags zogen wieder Wolken auf und der Fluss begehrte keine einzige von ihnen. Er begrüßte jede Wolke, die an ihm vorüberzog freudig und voller Güte, genoss den Anblick jeder Wolke in ihrer eigenen Schönheit. Vivo ließ sie weiterziehen und wünschte jeder einzelnen eine gute Reise. Sein innerer Frieden vertiefte sich nun angesichts des Wesens der Wolken, denn er erkannte, dass er selbst jede Wolke ist.
Als sich der Tag dem Ende neigte, öffnete sich Vivo ganz und gar dem Abendhimmel und nahm so den Vollmond wahr. Er erlebte den Anblick des Mondes wie ein Wunder – so unerwartet war die Erfahrung dieses leuchtend schönen Bildes. Grenzenlose Ruhe breitete sich in ihm aus und die Schönheit des Mondes spiegelte sich in ihm wieder.
Gelassen und ruhig nähert sich Vivo dem Ozean stetig, denn er weiß, wie bedeutungslos es ist, den Wolken nachzujagen. Sein Wasserlauf belebt seine Ufer und verschenkt sich großzügig an Alles und Jeden, um seine Lebendigkeit zu teilen. Er lauscht seinem eigenen Klang und Fließen auf seinem Weg.