Psychischer Schmerz und ggf. beträchtliche Einschränkungen der Lebendigkeit bilden den hohen Preis, den Menschen mit einem narzisstischen Persönlichkeitsstil für ihre angestrengten Leistungen zahlen. Denn stetig gilt es, die vermeintliche eigene Wertlosigkeit aktiv zu widerlegen, d.h. die eigene „Existenzberechtigung“ nachzuweisen. Potenziell können somit ihre guten Taten und Werke bei ihren Mitmenschen Wertschätzung, Anerkennung und Zuwendung entstehen lassen und der tiefe Wunsch, Liebe sowie die Freude menschlicher Verbundenheit empfinden zu können, würde so Widerhall finden.
Erlebte sogenannte narzisstische Kränkungen entfalten nachhaltig ihre quälerischen Wirkungen in Gestalt von Entwicklungsbarrieren und Funktionseinschränkungen, so dass ein wahrlich als erfüllt erlebtes Leben schwerlich oder gar unmöglich zu sein scheint.
Diese Menschen leisten ihren wertvollen Beitrag für die Gesellschaft und beabsichtigen per se nur Gutes und weisen zudem meist eine stark ausgeprägte Leidensfähigkeit auf. Ihre als negativ bewerteten Persönlichkeitsanteile wollen sie vor allem wohlverborgen halten, weil das allgemeine Klischee einer narzisstischen Persönlichkeit den Inbegriff eines schlechten Charakters bildet. Menschen mit einem narzisstischen Persönlichkeitsstil leiden unter dem Selbigen und sind in ihrer Lebensweise dadurch bedingt.
Die stereotypen Attribute Stolz, Egozentrik, hohe Ansprüche an sich selbst und ihre Mitmenschen, die Neigung, Mitmenschen bewusst zu manipulieren, Selbstüberschätzung etc., die sicher mehr oder minder ausgeprägt vorhanden sind, wirken sich nur dann problematisch aus, wenn diese das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung annehmen. Deshalb ist es elementar, fein differenziert auf das Thema Narzissmus zu schauen! Ein narzisstischer Persönlichkeitsstil ist von einer Persönlichkeitsstörung zu unterscheiden!
Ausbeuterisches Verhalten, egoistisches Schmarotzen, Selbstverliebtheit, Dramatisierungen, Theatralik, Überschwänglichkeit, Selbstinszenierung, Maßlosigkeit etc. weisen hingegen deutlicher auf ein Störungsbild hin, wenngleich in Ergänzung dazu (!) auch das Charakterbild mit in den Blick zu nehmen ist.
Die meisten meiner Klient*innen haben einen narzisstischen Persönlichkeitsstil, denn dieser bildet eine wesentliche Qualität unserer gegenwärtigen lebensfeindlichen Kultur. Die Identifikation mit dem Leistungsprinzip, sogar bis in die privaten Lebensbereiche, ist dabei nahezu grundlegend. – Leistung als Selbstzweck statt als Mittel zum Zweck. – Status, Image und Prestige sind die gesellschaftlichen Leitplanken, denen sich Mensch nur ganz bewusst entziehen kann, um den eigenen Lebenszweck im SEIN statt im Haben zu erkennen.
Selbstoptimierung und materieller Vollkommenheitswahn sind die „Möhren“, die das Lauftempo im Hamsterrad erhöhen, so dass u. U. sogar der Klarblick schwindet, dass eine Karriereleiter auch nur ein Hamsterrad ist. Diese narzisstische Kultur macht sich die Werbewirtschaft erfolgreich zunutze und fördert sogar ihre Aufrechterhaltung und Ausdehnung. Es handelt sich hier allerdings um Wirkungen, denn die Ursachen werden in den Familien gesetzt!
In Familien, in denen ECHTE emotionale Verbundenheit fehlt, mag zwar Vieles gut gemeint sein, allerdings schlecht gemacht, da tief sitzende Ängste und eigene emotionale Bedürftigkeit der Eltern dem Kind ein wahrhaftiges Gefühl von Zugehörigkeit sozusagen vorenthalten. So wurden/werden Kinder teilweise konditioniert und trainiert wie Tunierpferde und daher funktional sozialisiert, und damit oft in ihren wirklichen Begabungen und Fähigkeiten gehemmt und/oder gelähmt. Aus eigener Bedürftigkeit heraus übertragen Eltern meistens unbewusst den Auftrag an ihre Kinder, ihren Bedürfnissen und emotionalen Defiziten gerecht zu werden, statt sich natürlich zu entfalten. Auf den ersten Blick mag sich die Situation vollkommen gegenteilig darstellen, da dem Kind viele Entscheidungsfreiheiten gegeben werden sowie das Credo „Du kannst werden, was immer du willst!“ laut proglammiert wird. Die unausgesprochenen Ansprüche, die sich erst bei genauerem Hinsehen im Verhalten der Eltern erkennen lassen, werden allerdings zur maßgeblichen psychischen Leitlinie des Kindes und späteren Erwachsen. Die Wurzeln des narzisstischen Persönlichkeitsstils reichen also tief.
Im bewussten Veränderungsprozess eines Menschen mit narzisstischem Persönlichkeitsstil geht es daher vor allem darum, die Fähigkeit auszubilden, aus sich selbst heraus in emotionaler Verbundenheit zu leben, was den Beitrag dieser Person für die Gesellschaft aller Voraussicht nach sogar noch verstärkt. Emotionale Verletzungen sind soweit es erforderlich ist, in den Blick zu nehmen und einen konstruktiven Umgang mit diesen zu finden. So können alte Entwicklungshemmungen überwunden werden, die durch narzisstische Kränkungen in der frühen Kindheit entstanden sind. Jene Blockade der Ich-Entwicklung zeitigt Phänomene des Leidens, die sich zentral um die eigene Verletzlichkeit und damit einhergehender Empfindlichkeit drehen. Die Entwicklungspsychologie bietet hilfreiche Ansätze für ein besseres Selbstverstehen und damit einen basalen Aspekt für die versöhnliche Selbstannahme. Geradezu archetypische Probleme finden ihren Ursprung in jener kleinkindlichen Phase, in der mehr Autonomie und Eigenwilligkeit für das Individuum auf dem Programmplan stehen, denn es geht darum, sich aus der passiven und abhängigen Säuglingsphase mutig zu emanzipieren. In diesem Individuationsprozess ist das Kind darauf angewiesen, mehr Freiheiten eingeräumt zu bekommen und somit angemessene weitere Frustrationen der Existenz in einem geschützten Raum fürsorglicher Liebe kennenzulernen und darauf reagieren zu können. Angepasst auf die bestehende Entwicklungsstufe und damit innerhalb bestimmter Grenzen, ist die Herausforderung für die Eltern erheblich: Das Kind befindet sich sowohl in Konflikten mit sich selbst als auch mit seiner Umgebung. Polaritäten der menschlichen Existenz, in ihren vielleicht stärksten Ausprägungen, konfrontieren nun das Menschenkind in dieser Phase zum ersten Mal mit ihrer ganzen Wucht.
Bei vielen Menschen bleiben diese existenziellen Dilemmata chronisch ungelöst und deshalb leiden viele Erwachsene unter Symptomen, die als schmerzliche Kompensationen für die versäumte Wiederannäherung an die Wirklichkeit im Kleinkindalter dienen.
Gegensätze integrieren zu können in einem Sowohl-als-auch ist jene fundamentale Aufgabe in dieser Entwicklungsphase, die eine gesunde Individuation ermöglicht.
Der machtvolle Unabhängigkeitsdrang einerseits und die Verbindung und und gewünschte Nähe zur Mutter andererseits bringen das ca. 18-monatige Kleinkind nachhaltig in innere Konflikte. Es geht immerhin um zentrale Realitäten des Daseins: Nähe – Distanz, Einheit – Trennung, Abhängigkeit – Unabhängigkeit, Selbstüberschätzung – Verletzlichkeit, Herrschaft – Unterwerfung, Maßlosigkeit – realistische Grenzen uswf.
Bleiben diese Polaritäten bestehen, sind perfektionistische (Zwangs-)Vorstellungen, lähmende Angst, verzerrte Wahrnehmungen, Depression und Wutausbrüche starke Hinweise darauf im Erwachsenenalter. Anders ausgedrückt, die Ich-Funktionen sind gering bis massiv eingeschränkt. Da die Gefühle der unbewältigten Wiederannährung an die Wirklichkeit i.d.R. zu schmerzhaft waren und als geradezu unerträglich empfunden wurden, motivierten sie massiv eine charakterliche Anpassung. Diese Anpassung, die in einer Phase begrenzter Möglichkeiten und Ressourcen in der frühkindlichen Persönlichkeit als ein Überlebensmechanismus installiert wurde, blieb seither nahezu unverändert, weil sie vor allem vom Umfeld des Kindes sehr stark unterstützt wurde. Insofern wurden die wahrhaftigen Realitäten des Selbst, ja sogar die Grundbedürfnisse des Körpers verleugnet. Die daraus resultierenden schmerzhaften Gefühle, die fortwährend pressieren sowie die Erwartungen des Umfelds haben die Charakteranpassung letztlich so nachhaltig fixiert.
Sich dem eigenen wahren Selbst zu nähern und so wahrhaftig zu sich selbst zu kommen, ermöglicht eine gesunde Annäherung an die Realität des eigenen Daseins. Inwieweit die Heilung der ursprünglichen Verletzung möglich ist, hängt davon ab, ob und wie offen ein Zugang zu diesen tief verankertern und als katastrophal empfundenen Gefühlen möglich ist. Es gibt unterschiedliche sich ergänzende Methoden und Ansätze, die losgelöst von Rationalität und logischem Vorgehen eben genau deshalb sehr hilfreich sein können. Innere Widersprüche und Konflikte zu lösen und das schrittweise psychische Erwachsenwerden (Nachreifen) gelingen am besten ganzheitlich und damit mit einer Synthese methodischer Ansätze.
Die gegenwärtig noch immer trendabhängige Kultur, die sich der Religion von Technologie, Big Data, Rationalität und Optimierung unhinterfragt unterwirft, schaut arrogant auf natürliche psychische Realitäten herab und beklagt dann unmittelbar die pathologischen Folgen ihrer lebensverneinenden Grundhaltung. Nach meinem Dafürhalten gilt es, hinsichtlich der Persönlichkeitsentfaltung Trends zu transzendieren und den inneren Raum auszudehnen, und so inneres Wachstum liebevoll ohne Leistungsansprüche zu verwirklichen.
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