Veränderungsbereitschaft und Sosein

Liebesfähigkeit und geistiger Reifegrad bilden m.E.  zusammen das „Ausgangsmaterial“ für die Veränderungsbereitschaft eines Menschen. Die Entfaltung des einen Aspekts wie auch des anderen „verlangt“ geradezu nach angemessener Wahrnehmungsschulung. Dieser innere Antrieb, der sich wie die Suche nach der Wahrheit anfühlt, beschleunigt sowohl die Entfaltung beider Aspekte als auch die Annäherung an die Antworten auf die fundamentalsten Fragen, die die Menschheit dem Leben stellt.

Die früheren Entfaltungsstufen nähern sich auf eher infantile Art und Weise dem Sinn des Lebens, dem SEIN und der Welt. Ähnlich einem neugierigen und gleichzeitig ängstlichen Kind, das sich die Welt erobern und untertan machen will. Insofern stellen „unreife Geister“ auch in alten Körpern nur Fragen an das Leben, die ihrem geistigen Reifegrad gemäß sind. Die Reife ihrer Wahrnehmung, ihres Denkens und ihres daraus resultierenden Handelns weicht daher naturgemäß ab von jenem Geist, der bereits reifer und damit lebensweiser ist.

Wenngleich der Entfaltungsgrad der Liebesfähigkeit und geistigen Reife losgelöst von der (psychischen) Persönlichkeitsentwicklung ist, greifen alle Aspekte in der Lebenspraxis ineinander und sind zuweilen wechselwirksam in Bezug auf Wahrnehmung, Interaktionen, Handeln und somit auf die SELBSTwirksamkeit.

„Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“ baut die bekannten „Grenzen im Kopf“, verstärkt diese und hält sie oft unhinterfragt aufrecht.

Die abendländische Kultur ist maßgeblich christlich geprägt, wenn dabei auch sogenannte heidnische Überzeugungen und Praktiken nur neu etikettiert und so feste Bestandteile christlicher Feste und Rituale wurden. Wie unterschiedlich die Ausprägungen sind, lässt sich leicht an den Praktiken in verschiedenen Regionen der Welt einerseits und während verschiedener Zeitepochen andererseits erkennen. Das, was unter christlich verstanden wurde und was auch gegenwärtig darunter verstanden werden kann, entspringt stets dem menschlichen Verstand.

Als Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Bibel auf jene Inhalte kürzte, die heute noch „Die Heilige Schrift“ bilden, entsprangen seine inhaltlichen Maßgaben seinen machtpolitischen Interessen. Machtpolitik und Klerus konnten jahrhundertelang als Synonym in der patriarchalen Weltgestaltung des Abendlandes gesetzt werden. Die Aufklärung wollte dieses Politische Christentum entmachten durch die Revolution der Vernunft. Geblieben sind das patriarchale Gerüst im Christentum, das seiner weltlichen Entstehungszeit entspricht, die Gehorsam im Sinne der Obrigkeitshörigkeit, Hierarchien und Verhaltensregeln als Qualitätsmerkmale aufweist.

Von Menschen geschriebene Worte, d.h. beeinflusst durch Ängste, Erfahrungen, politische Machtstrukturen, geografische und gesellschaftliche Gegebenheiten, Traditionen und Gewohnheiten können niemals den Anspruch universeller Gültigkeit für sich erheben. Wie jedes religiöse Schrifttum wahrhaftige, universell gültige ESSENZEN DER WIRKLICHKEIT enthält, so sehr sind diese in den Schriften verwoben, versteckt und ummantelt mit der menschlichen Wahrnehmung aus der Ich-Haftigkeit heraus. – Es ist eine Binsenweisheit, dass in Allem ein Funken Wahrheit steckt. – Diesen Funken zu entdecken, ihn zu entfachen und lebendig zu erhalten, haben sich Wahrheitssuchende seit jeher zur Aufgabe gemacht. Und je weiter die Liebesfähigkeit und der geistige Reifegrad der Wahrheitssuchenden bereits entfaltet sind, desto weniger Dogmen haben für sie Gültigkeit –  weil nur das Gut der Freiheit und des geistigen Friedens das höchste ist.

Im Abendland bzw. in der westlichen Welt, maßgeblich und nachhaltig in der Tradition des Christentums (erweitert um die Aufklärung) geprägt, bewegen sich die Menschen ambivalent zwischen zwei extremen Polen: dem atheistisch-existentialistischen und dem christlich/spirituellen. Kirchliche Feiertage halten den Atheisten ebenso von der Erwerbsarbeit fern wie die fromme Katholikin. „Wir sind Papst“ ebenso wie wir belächeln können, dass sich Menschen kleine Abbildungen eines altrömischen Folterinstruments in Gold geschmiedet um den Hals hängen (Kreuz). Wir sagen reflexartig „Mein Gott!“, „Um Gottes Willen!“ und „Gott sei Dank!“, um auf Nachfrage voller Inbrunst zu verkünden, nicht an „den alten Mann mit dem langen Bart im weißen Nachthemd, der auf einer Wolke sitzt“ zu glauben. „Denn wenn es diesen Gott wirklich gäbe, dann würde er schließlich nicht so viel Leid auf dieser Welt zulassen!“ – Treffgenauer könnte die Prägung durch das patriarchale Christentum bei einem „Atheisten“ kaum zum Ausdruck gebracht werden.

„Gott, unser allmächtiger Vater richtet alles. Und da Gottes Wege unergründlich sind, kann ich sie weder nachvollziehen, noch verstehen. Ich kann sie nur fatalistisch annehmen und muss darauf vertrauen, dass alles so seinen Sinn haben wird. Was Gott will, steht schließlich in den Schriften.“

Da der gesunde Menschenverstand die Schräglage einer solchen „Argumentation“ leicht identifizieren kann, ist Ablehnung die natürliche Reaktion. Mensch hat dann entweder seinen Glauben verloren oder glaubt an Nichts! Da aber Rituale die Lebenspraxis strukturieren, werden die „christlich begründeten“ Feste und Rituale konsum- und eventartig verweltlicht und/oder wieder mit vorchristlichen Bedeutungszuschreibungen versehen.

Sportliche Großveranstaltungen versetzen Massen in emotionale Verzückung und Rauschzustände und um diese herum können Bedeutungsuniversen gebildet werden, die von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, nahezu religiös-fundamentalistisch. – So oder so, menschliche Wesen glauben stets an „ETWAS“, das kann „Nichts“ genannt werden, oder „der Markt“, oder „Gott“, oder „Geld“, oder „Lifestyle“, oder „Bildung“, oder „Kultur“, oder „Fußball“ etc. Im Grunde ist es vollkommen bedeutungslos. Im Lebensalltag, in Politik und Gesellschaft –  allesamt zusammengesetzt aus vielen ICHs –  kann der eigene Glaube reich und berühmt machen, fanatisches und feindseliges Verhalten bewirken, „mit dem Tode bestraft werden“, Angst erzeugen und verstärken, depressive und unglückliche Lebenszeiten manifestieren und vieles Unerfreuliche mehr – kurzum „die Ungerechtigkeit der Welt“ scheinbar immer und ewig aufrecht erhalten.

Es entsteht stets in einem Glaubenssystem, was unter wahrhaftig verstanden wird. Je rigider das eigene Glauben (woran auch immer) ist, desto bedeutungsvoller sind die Dogmen, wie unbewusst diese auch sein mögen. „Was nicht sein darf, nicht sein kann“ versteht sich genau in diesem Sinne.

Der geistige Reifegrad bestimmt die geistige Offenheit und damit auch maßgeblich das gelebte Glaubenssystem. Ein Glaubenssystem ist ein verfestigtes Denksystem. Sprache verfestigt Denksysteme.

Nach Wittgenstein bilden die Grenzen meiner Sprache, die Grenzen meiner Welt. Sprache bringt Denken zum Ausdruck. So wie ich Welt (gedanklich) verorte, so ist die Welt für mich. (Doch Wahrnehmung ist veränderbar!) Der Verstand verarbeitet Sprache und über die Sprache lässt sich die Wahrnehmung schulen. – Lernen bedeutet Veränderung; Wahrnehmung wird erlernt. In diesem Sinne kann Sprache als geistige Stimulanz verstanden werden, die zu Gedankenexperimenten einladen kann. Denn ein verändertes Denken verändert die Wahrnehmung!

 

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